Und im echten Leben?

Neulich bei einer Podiums-diskussion zum Thema alternative Wirtschaftsweisen. Der Modera-tor, Journalist eines österreich-ischen Qualitätsmediums, stellt den drei VertreterInnen am Podium kritische Fragen zu ihren Modellen und Vorschlägen, wie wir Menschen nachhaltig wirtschaften können. Das ist seine Aufgabe, er soll kritisch hinterfragen. Und dennoch, die Art und Weise, wie er seine Fragen formuliert, finde ich problematisch. Weil ich diese Art der Fragen auch immer wieder gestellt bekomme, wenn ich zu Nachhaltigkeit und CSR arbeite und lehre oder wenn ich in Freundesrunden utopischen Konzepten wie etwa dem bedingungslosen Grundeinkommen das Wort rede.

Diese Fragen lauten meist: „Jetzt mal ehrlich, im richtigen Leben kann das doch nicht funktionieren, was sie da vorschlagen.“ Oder so: „Also wenn wir realistisch bleiben, dann...“.

Solche Wortwahl, oft vorgetragen in einem väterlich beschwichtigendem Ton (und ja, es sind meist Männer, die diese Fragen stellen) transportiert eine Unterstellung: Jene, die sich überlegen, wie man dem vorherrschenden System – das zunehmend zerstörerischer wird – etwas entgegensetzen kann, dass allen Menschen ein gutes Leben in einer intakten Natur ermöglicht, wären nicht Teil dieser Welt. Diese Fragen insinuieren, Menschen mit anderen Denkweisen, mit Visionen und Utopien für eine bessere Welt, die sich für andere Spielregeln einsetzen, wären nicht in dieser Wirklichkeit zu Hause.

Und noch etwas tun diese Fragen: sie ersticken (manchmal) eine ernsthafte Diskussion. Denn am Ende des Tages, so der Effekt, wären und blieben all diese neuen Ideen und Modelle nichts als Hirngespinste von ein paar linkslinken Gutmenschen, die mal eben die Welt retten wollen.

Was wäre denn so schlecht daran, die Welt zu retten (abgesehen davon, dass es weniger um Weltrettung als Rettung vor dem selbst-zerstörerischen Kurs der Menschheit ist)? Warum sollte es zu den vorherrschenden (menschengemachten!) Spielregeln denn nicht (menschengemachte!) Alternativen geben, die ebenso gut – wenn nicht sogar besser – funktionieren könnten? Nur, weil sich die Fragenden vielleicht in ihrem Denkkorsett keine Alternativen mehr vorstellen können? Warum sollten wir die Probleme, die durch eine zunehmend dogmatische Anwendung neoklassischer Ökonomie (auf die Spitze getrieben: Wachstum, Wachstum, Wachstum! Konkurrenz, Konkurrenz, Konkurrenz!) entstanden sind, mit noch mehr dogmatischer neoklassischer Ökonomie lösen können? Um ein Bild zu bemühen: Ein fettleibiger Mensch kommt zum Arzt. Nach dem Anamnese-Gespräch stellt der Arzt seine Diagnose: „Sie essen viel zu viel!“ Und die Therapie? „Essen sie noch viel mehr!“

Im Übrigen stammen nicht gerade wenige dieser alternativen Ideen, Konzepte und Modelle bzw. die Kritiken an den aktuellen Spielregeln von ehemaligen Ökonomen der Weltbank (Herman Daly), von ehemaligen Investmentbankern (Christian Kreiß) oder von ausgezeichneten Wissenschaftlerinnen (Kate Raworth).

Und vor allem: diese Alternativen sind schon längst da. Sie funktionieren. Jeden Tag, auch im „richtigen Leben“ – trotz der manchmal hartnäckigen Weigerung von so manchen, dies sehen oder zur Kenntnis nehmen zu wollen. Davon können sich alle selbst überzeugen, z.B. anhand des Films „Zeit für Utopien“ von Kurt Langbein, der weltweit Beispiele bringt, wie Menschen es heute schon anders machen. Wie es ihnen damit gut geht. Wie sie eine neue Lebensqualität gewinnen.

Wir – wir alle, sie, ich, unsere PartnerInnen, unsere Kinder, unsere NachbarInnen – brauchen neue Philosophien, neue Perspektiven, neue visionäre und utopische Theorien und Modelle, um die Herausforderungen einer übervollen Welt meistern zu können. Die alten Modelle haben ausgedient, sie beziehen sich auf eine Welt, die es so nicht mehr gibt. Um einen Satz der Pariser Klimakonferenz zu paraphrasieren: Wir können uns Realismus nicht länger leisten, dafür ist die Situation viel zu ernst.

TINA (There Is No Alternative) ist tot!
Hoch lebe TIPA: There Is a Plentitude of Alternatives!